Leistungsdeterminanten der visuomotorischen Reaktionsschnelligkeit*
Key notes:
- In Sportarten mit hohem Zeitdruck ist die Reaktionsschnelligkeit eine wichtige Leistungsdeterminante, da eine kurze Reaktionszeit die Gesamtdauer eines Bewegungsablaufs entscheidend verkürzen kann.
- Die minimal benötigte Zeit, um auf einen visuellen Reiz angemessen reagieren zu können, hängt dabei nicht nur vonder Leistungsfähigkeit der unterschiedlichen beteiligten Systeme ab, sondern auch von der Situationskomplexität und dem Schwierigkeitsgrad der motorischen Antwort.
- Athleten verfügen über eine schnellere Reaktionsfähigkeit im Vergleich zu Nicht-Athleten.
- Die interindividuellen Unterschiede in der visuomotorischen Reaktionszeit scheinen dabei vor allem von der Transformationsgeschwindigkeit des visuellen Signals in einen motorischen Befehl, aber auch von der Wahrnehmung der visuellen Information und Effizienz der Informationsverarbeitung, abhängig zu sein.
- Reaktionsschnelligkeit ist trainierbar.
Die Reaktionszeit (Zeitspanne zwischen Auftreten eines Reizes und dem Beginn der motorischen Antwort) spielt in alltäglichen Situationen eine wichtige Rolle. Nicht weniger wichtig ist die Reaktionsgeschwindigkeit für Spitzensportler aus verschiedenen Mannschaftssporten (z.B. Reagieren des Verteidigers auf einen Richtungswechsel des Gegenspielers), Rückschlagsportarten (z.B. Return im Tennis) und Kampfsportarten (z.B. Abwehr eines Angriffsschlags im Boxen), denn die Reaktionszeit trägt maßgeblich zur Gesamtdauer eines Bewegungsablaufs (= Reaktionszeit + Zeit zum Ausführen der Zielbewegung) bei. Stellen Sie sich vor, ein Tennisspieler platziert einen Aufschlag mit einer Geschwindigkeit von 180 km/h (50 m/s) 1 m entfernt von der rechten Seitenlinie direkt auf der Aufschlaglinie des gegnerischen Feldes. Gehen Sie davon aus, dass der Aufschlagspieler nicht direkt auf Höhe der T-Linie aufschlägt, sondern mit ca. 0,5 m Versatz nach links und die Abschlaghöhe 2,5 m beträgt. Bei Vernachlässigung des Luftwiderstandes kommt man zu dem Schluss, dass der Ball ca. 376 ms nach dem er den Schläger verlässt, im gegnerischen Feld landet. Kleinöder, Neumaier und Mester (1994) geben an, dass sich auf Grund des Reibungswiderstandes beim Bodenkontakt, die Ballgeschwindigkeit um mindestens 50% reduziert wird. Wenn wir annehmen, dass der Gegner sich 1 m hinter der Grundlinie, mittig zwischen T-Linie und Außenlinie befindet, bleiben ihm ca. 600 ms Zeit, um den Ball auf Höhe der Grundlinie rechtzeitig zu erlaufen. Bei einer angenommenen Reaktionszeit von 275 ms2, bleiben dem Sportler somit maximal 325 ms Zeit den Ball zu treffen. Dafür muss er eine mittlere Bewegungsgeschwindigkeit von mindestens 16,5 km/h erreichen. Je kürzer also die Reaktionszeit, desto mehr Zeit stehen einem Athleten für eine erfolgreiche Bewegungsausführung zur Verfügung. In Sportarten mit hohem Zeitdruck ist die Reaktionsschnelligkeit somit eine wichtige Leistungsdeterminante3, da Dank einer kurzen Reaktionszeit die Gesamtdauer eines Bewegungsablaufs entscheidend verkürzt werden kann.
Sportler müssen schnell und flexibel auf unterschiedliche Reizformen (taktile, visuelle und akustische) reagieren können. Dabei spielen in vielen Sportarten vor allem visuelle Reize eine tragende Rolle4. Betrachtet man die visuomotorische Reaktion genauer, lässt sich diese grob in neun Subprozesse untergliedern, deren individuelle Ablaufgeschwindigkeiten in der Gesamtheit die Reaktionszeit bestimmen.
Von der inneren Oberfläche des Auges (Netzhaut/Retina) werden die neuronalen Signale, die die visuelle Information codieren, über den Sehnerv (Gesamtheit vieler einzelner Nervenfasern der Augen) zu Gehirnarealen der visuellen Reizverarbeitung weitergeleitet5. Die von der Netzhaut weitergeleiteten Informationen werden zunächst über den primären visuellen Kortex wahrgenommen und anschließend in höheren visuellen Kortexarealen verarbeitet (z.B. Interpretation nach Farbe, Form, Größe, Entfernung und Orientierung/Richtung eines Objektes – das Objekt wird jetzt bewusst „erkannt“). Die visuellen Informationen werden daraufhin in den Assoziationsarealen des Gehirns (alle Regionen der Großhirnrinde mit Ausnahme der primären und sekundären motorischen bzw. sensorischen Areale) mit früheren (Bewegungs-) Erfahrungen verglichen6. Basierend darauf wird im prämotorischen Kortex ein zielführendes Bewegungsprogramm erstellt und das Bewegungsprogramm durch den supplementär motorischen Kortex initiiert. Unter der Beteiligung unterschiedlicher motorischer Rindengebiete wie z.B. dem primären motorischen Kortex (hier wird das Bewegungsprogramm in die Ansteuerung spezifischer motorischer Einheiten umgesetzt) und dem Kleinhirn (u.a. zuständig für die motorische Feinkoordination, Bewegungsgeschwindigkeit und Bewegungskontrolle7,8), wird dasBewegungssignal zunächst über zentrale und dann über periphere efferente (absteigende) Nervenfasern an die Muskulatur weitergeleitet5**.
Die minimal benötigte Zeit, um auf einen visuellen Reiz angemessen reagieren zu können, hängt dabei nicht nur von der Leistungsfähigkeit der unterschiedlichen beteiligten Systeme ab, sondern u.a. auch von der Komplexität der Situation9und dem Schwierigkeitsgrad der motorischen Antwort8. Hierbei gilt: Je komplexer die Situation ist, das heißt je mehr Handlungsalternativen zur Verfügung stehen, Informationen berücksichtigt oder nicht relevante Reize ausgeblendet werden müssen bzw. je motorisch anspruchsvoller die Zielbewegung ist, desto länger dauert der gesamte visuomotorische Prozess9,11,12. Reaktionen, bei denen viele verschiedene Informationen berücksichtigt werden müssen und unterschiedliche Handlungsoptionen zur Verfügung stehen, bezeichnet man als ‚komplexe motorische Reaktionen‘. Insbesondere Spielsportarten verlangen Athleten regelmäßig komplexe motorische Reaktionen ab, die zusätzlich noch unter hohem Zeitdruck erfolgen müssen. Dass die Reaktionszeit u.a. in Abhängigkeit von der Komplexität der Situation steigt9, lässt auf einen verstärkten Einfluss der kognitiven Informationsverarbeitung schließen.
Im Allgemeinen können Sportler schneller auf Reize reagieren als Nicht-Sportler13,14. In diesem Zusammenhang wurde nachgewiesen, dass sich die Grundaktivität des supplementär motorischen Areals, die Dichte an Nervenzellen im Kleinhirn, sowie funktionelle Verknüpfung zwischen unterschiedlichen visuellen und motorischen Hirnarealen, stark zwischen Athleten und Nicht-Athleten unterscheiden15,16. Die Aktivität des supplementär motorischen Areals17 bzw. die individuelle Grundaktivität des motorischen Systems18 hängt wiederum mit der visuomotorischen Reaktionszeit zusammen. Unterschiede in der visuomotorischen Reaktionszeit zwischen Athleten und Nicht-Athleten scheinen dabei vor allem von der Transformationsgeschwindigkeit des visuellen Signals in einen motorischen Befehl5 aber auch von der Wahrnehmung der visuellen Information und Effizienz der Informationsverarbeitung14 abhängig zu sein. Neuronale Prozesse die unmittelbar mit der Bewegungsausführung zusammenhängen (z.B. im primär motorischen Kortex) scheinen dabei eher eine untergeordnete Rolle zu spielen.
Bei Athleten nimmt die Reaktionszeit mit zunehmender Trainingserfahrung weiter ab19 und gezielte Trainingsinterventionen können zu einer kürzeren Reaktionszeit bei Wahl- als auch Einfachreaktionen führen20,21,22. Dies lässt zumindest auf eine teilweise Trainierbarkeit der beteiligten Systeme schließen und widerlegt somit die lang bestehende Annahme, dass die Reaktionsschnelligkeit primär genetisch vorbestimmt sei.
*Aufgrund der vereinfachten Lesbarkeit wird in diesem Text das generische maskulin im Sinne der geschlechtsneutralen Personenbezeichnung verwendet werden. Dies soll jedoch in keinem Fall als Herabsetzung des weiblichen Geschlechts, oder anderer Geschlechteridentitäten verstanden werden. Ein Zusammenhang der explizit in Abhängigkeit zum Geschlecht des Personenkollektivs steht, wird im Text gesondert kenntlich gemacht.
**Es ist wichtig anzumerken, dass es sich nur um eine oberflächliche Beschreibung ausgewählter perzeptiver und kognitiver Teilprozesse handelt und unsere Beschreibung der Komplexität der willkürlichen Bewegungsbildung und Steuerung nur unzureichend gerecht wird. Wer sich für eine detailliertere Beschreibung der neurophysiologischen Grundlagen der visuellen Wahrnehmung und Bewegungssteuerung interessiert sei auf Bellenbaum (2012)6 und Latash (2008)23 verwiesen.
Hi, ich bin Inga und arbeite als Werksstudentin bei GlobalSpeed. Aktuell studiere ich an der Sporthochschule Köln „Sport und Leistung“ im Bachelor. Ich bin begeistert davon Sachen auf den Grund zu gehen. Deshalb werde ich dir von nun an jeden zweiten Monat wissenschaftliche Themen, rund um das Thema Schnelligkeit und Reaktion im Spielsport, kompakt zusammen fassen. Hast du Fragen zu bestimmten Inhalten, oder Anmerkungen?
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Quellenverzeichnis:
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